Bindungstrauma: Was wir über uns in Beziehung lernen.
In diesem Artikel gehe ich der Frage nach, wodurch Entwicklungstraumta entstehen und wie sie uns im Erwachsenenalter beeinflussen.
Bindungstrauma als weit verbreitetes Phänomen. Ursachen & Folgen.
Der Begriff des Traumas ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter geworden. Und das ist gut so - führt es doch dazu, dass über Trauma gesprochen und geforscht wird.
Lange Zeit war Trauma ein Randbegriff, schwammig und tabuisiert.
Der Traumabegriff wird jedoch noch immer mit einer gewissen Unsicherheit benutzt.
Was ist ein Trauma eigentlich?
Viele Menschen halten „nur“ wirklich große Ereignisse, wie einen Verkehrsunfall, eine Vergewaltigung oder eine Entführung für etwas, was traumatisch sein kann.
Doch ist dies eine Fehlannahme und wird denjenigen, die Traumafolgestörungen, etwa durch elterliche Vernachlässigung, Ignoranz oder Abwertungen erlebt haben, nicht gerecht.
Akuttrauma vs. Entwicklungstrauma
Es läßt sich eine Unterscheidung zwischen einem Akuttrauma und einem Entwicklungstrauma machen.
Ersteres - auch Schocktrauma genannt - ist ein einmaliges Ereignis, welches gekennzeichnet ist durch eine Situation, die über das normal-übliche Bewältigungsmaß eines Betroffenen hinaus geht. Eine Situation, die die üblichen Grenzen verletzt hat und in der die/der Betroffene hilflos war, keine Möglichkeiten der Verhinderung mehr hatte. Solche Situationen sind beispielsweise eigene lebensbedrohliche Situationen (oder auch Angehörige*r, Freund*in oder als Augenzeug*in), körperliche Verletzungen oder Grenzüberschreitungen (wie beispielsweise auch unter der Geburt stattfinden können).
Entwicklungstraumata - auch Bindungstraumata - sind dagegen mehrere „kleinere“ und/oder „größere“ Grenzüberschreitungen - v.a. von nahestehenden Bezugspersonen. Wie beispielsweise, dass ein Säugling oder Kleinkind zu wenig körperliche Nähe erfährt oder schreien gelassen/nicht auf es reagiert wird, wenn es weint.
Situationen, die dem Kind das Gefühl von Unsicherheit und Angst, aber auch ungeliebt-sein und störend-sein, vermitteln, können zu Bindungstraumata führen. Ein Beispiel: mal reagiert die Mutter zugewandt und liebevoll, mal ist sie abweisend und schroff. Hier muss das Kind in einem permanenten Alarmzustand sein, da es nie sicher sein kann, wie die Mutter reagiert (gestörte Erwartbarkeit).
Ist das Elternhaus sehr rigide und streng, gefühlskalt oder direktiv können ebenfalls Entwicklungstraumata entstehen.
Häufige Ablehnungs- oder Abwertungssituationen, Reaktionen, die dem Kind vermitteln, „Du bist schuld, dass der Papa sauer wird und solltest Dich schämen“ können Entwicklungstraumata begünstigen. Auch Trennungssituationen (z.B. unbegleitete Krankenhausaufenthalte), häufige Wohnortswechsel und Parentifizierungsprozesse (Kinder übernehmen die Rolle der Eltern: trösten Mutter nach einer Trennung u.ä.) können Bindungstraumata begünstigen.
Bindungstraumata hinterlassen tiefgreifende Spuren
Eine Situation ist immer dann traumatisch, wenn die/der Betroffene das Gefühl hat, sie/er ist einer als bedrohlich erlebten Situation hilflos ausgeliefert und entwickelt durch die Primärbeziehung (Eltern oder ähnlich enge Bezugspersonen) die Überzeugung „nicht richtig“ oder „nicht gewollt/geliebt“ zu sein.
Meine Erfahrung ist, dass bindungstraumatisierten Menschen in der Regel das Erleben innewohnt, nicht gesehen und ernst genommen worden zu sein.
Festhängen in einer alten Entwicklungsstufe
Aus diesen kleinen Menschen werden im Laufe der Zeit große Menschen. Was diese kleinen und später größeren Menschen jedoch häufig nicht allein schaffen, ist wirklich „groß zu werden“. Im Laufe der Entwicklung muss die Psyche einen Weg finden, mit diesen Traumatisierungen umzugehen. In der Regel werden, um dies zu schaffen, traumatische Erlebnisse und Gefühle - all der Schmerz, der Mangel und die Not des Kindes - abgespalten. Ganz tief vergraben, um sie nie wieder spüren zu müssen. Doch leider ist dies unmöglich. Denn die menschliche Psyche versucht immer sich weiter zu entwickeln und alte Entwicklungsebenen hinter sich zu lassen.
Im Falle eines Bindungstraumas ist dieser Prozess erschwert. Bestimmte Situationen und Reize führen dazu, dass das traumatische Erleben getriggert wird. Dieses Triggern „dient" der Psyche dazu, diese in die Lage zu versetzen, den inneren Schmerz zu bewältigen und zu verarbeiten. Denn erst wenn dies geschehen ist, kann der nächsten Entwicklungsschritt gegangen werden. Wenn uns eine Situation (ein bestimmter Blick, eine Äußerung oder eine Reaktion) triggert, wird alter Schmerz und alte Not wieder spürbar. Da die alte Not häufig so groß war, wäre es jedoch viel zu bedrohlich - da es uns unsere Alltags-Funktionalität kosten würde - diese zu spüren.
Was nun passiert, ist, dass alte und meist unreife Bewältigungs- und Schutzstrategien greifen (müssen): Einkaufen, Essen, Alkohol trinken, Spielen, Mediennutzung, extremes Sportverhalten, aber auch Grübeln (gedankliches „Wiederkäuen" ein und desselben Themas), Angst- und Panikzustände, Rückzug, psychosomatische Erkrankungen - um nur einige wenige zu nennen.
Denn zu diesen erlernten und unbewusst ausgeprägten Strategien müssen Kinder, Jugendliche und Erwachsene greifen, um die Situation zu überleben.
Und ich schreibe hier bewusst überleben, denn für viele Betroffene fühlt sich ihr Leben an, wie ein permanentes Kämpfen und Straucheln.
Doch wie bereits oben erwähnt, führen diese Strategien nicht dazu, dass die/der Betroffene die nächste Entwicklungsstufe erreicht. Denn durch Alkohol und Grübeln lassen sich alte Wunden, die massiv schmerzen, nicht auflösen.
Heilung durch Beziehung
Aus meiner Sicht, und diese wird durch zahlreiche Therapiestudien geteilt, kann etwas, was in Beziehung kaputt geht, nur in Beziehung heilen.
Diese alten Verletzungen, entstanden durch ungünstige, bedrohliche oder unzuverlässige Bindungserfahrungen, zu heilen, ist meiner Ansicht nach allein nicht möglich. Hier braucht es andere Menschen: Behandler*innen, Freunde, Verwandte, am besten ein ganzes Dorf. Um einen nächsten Entwicklungsschritt gehen zu können.
Bei einem Entwicklungstrauma kommen häufig andere Behandlungsmethoden zum Tragen als bei einem Schocktrauma.
Vor allem anderen ist es wichtig eine tragfähige, sichere und authentische Beziehung aufzubauen. Menschen mit Bindungstrauma müssen über einen längeren Zeitraum die Erfahrung machen können, dass Beziehung sicher sein kann. Das es, auch in Konfliktsituationen, nicht zu Abbrüchen, Abwertungen oder gar Gewaltakten kommt. Das es sicher sein kann, zu vertrauen und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ebenso wie eigene Grenzen zu äußern.
Dies ist häufig ein langwieriger Prozess, der sich aber in jedem Fall lohnt.
Solltest Du Dich in den beschriebenen Verhaltensweisen und Symptomen wieder erkennen, lade ich Dich ein, nun erst einmal tief durchzuatmen. Vielleicht ist beim Lesen des Textes etwas in Dir berührt worden. Dann ist es wichtig, Dich erst einmal wieder im Hier & Jetzt zu verorten (das übrigens ist eine sehr kraftvolle Technik, die bei der Behandlung von Traumata immer wieder zum Einsatz kommt).
Ich lade Dich ein, wenn Du Dich angesprochen fühlst, Dich auf die Reise zu machen. Dich mit Dir und dem, was Dir widerfahren ist, auseinander zu setzen.
Denn von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe bekommen Betroffene mehr Gestaltungsmöglichkeiten, um das eigene Leben so auszurichten, wie es den eigenen Ideen und Wünschen entspricht. Statt das Leben sich leben zu lassen, entsteht so die Möglichkeit das Leben so zu leben, wie es zu Dir paßt.
Ich erinnere Dich daran, mit Dir in Verbindung zu sein.